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Titel
Unbeugsam hinter Gittern. Die Hungerstreiks der RAF nach dem Deutschen Herbst


Autor(en)
Schulz, Jan-Hendrik
Erschienen
Frankfurt am Main 2019: Campus Verlag
Anzahl Seiten
590 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Caroline Peters, Humboldt-Universität zu Berlin / Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Jan-Hendrik Schulz beschäftigt sich in seiner am European University Institute in Florenz verteidigten, jetzt als Buch vorliegenden Dissertation mit der bisher weniger beachteten Spätphase der Roten Armee Fraktion (RAF), die länger andauerte als ihre sonst im Fokus stehende und mit dem „Deutschen Herbst“ gipfelnde Hauptphase. Schulz rechnet zu dieser Spätphase die Zeit nach dem Herbst 1977 bis zum Mauerfall im November 1989, wobei sein Ausgangsinteresse darin besteht, „neue Erklärungsansätze für die vergleichsweise lange Kontinuität des Phänomens RAF in der westdeutschen Gesellschaft zu finden“ (S. 12).

Hungerstreiks versteht Schulz, anders als etwa Marcel Streng, nicht als „politische Subjektivierungspraxis“1, „sondern primär als politisches Kommunikationsmittel und auf eine gesellschaftliche Mobilisierung abzielende Widerstandsform gegen den Staat“ (S. 13). Schulz setzt es sich zum Ziel, sowohl die Gewaltakteur/innen als auch deren soziales Umfeld zu betrachten und den Beziehungszusammenhang zwischen Aktiven in der Legalität und solchen in der Illegalität zu berücksichtigen (S. 17f.). Um keine rein Täter/innen-zentrierte Analyse vorzunehmen, legt er den „Fokus auf Entwicklungsprozesse […], die innerhalb der Gesellschaft stattfanden, um so die fortgeführten Untergrund-Aktivitäten der RAF in den 1980er Jahren in einen politischen und sozialen Zusammenhang stellen zu können“ (S. 12; dortige Hervorhebung). Dabei fluktuierten jedoch sowohl die Gruppe der Gefangenen als auch die Gruppe der Adressat/innen erheblich (S. 14). Die Mobilisierungserfolge der RAF kontrastiert Schulz mit den Hungerstreiks der Action Directe (AD) in Frankreich, um die transnationale Kooperation der beiden Stadtguerilla-Gruppen zu untersuchen (S. 14f.). Er verfolgt die Frage, unter welchen Bedingungen AD-Gefangene in Frankreich Beziehungen zu außenstehenden Akteur/innen aufbauen konnten (S. 27).

Die umfangreiche Studie stützt sich in gut lesbarer und anregender Weise auf vielfältiges Quellenmaterial von Briefen über Prozessbeobachtungen und politische Statements bis hin zu Broschüren, Zeitschriften und Medienberichten. Immer wieder im Zentrum stehen Versuche, durch Hungerstreiks als Druckmittel die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen neu zu verhandeln, wobei der Autor die Strategiewechsel der verschiedenen Akteursgruppen rekonstruiert.

Im ersten seiner fünf Hauptkapitel skizziert Schulz die Geschichte des Hungerstreiks als politisches Kommunikationsmittel seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (S. 33ff.). Vergleichsweise spät fand der erste Hungerstreik in der Bundesrepublik Deutschland als öffentlichkeitswirksame Protestform im Kontext der Studentenbewegung der ausgehenden 1960er-Jahre statt (S. 35). Schulz charakterisiert die „Haftbedingungen politischer Gefangener zwischen Mythos und Wirklichkeit“ (S. 60; dortige Hervorhebung) derart, dass die Bezeichnung „Isolationsfolter“ im Hinblick auf RAF-Mitglieder als zeitgenössische Dramatisierung zu bezeichnen sei (S. 91), ebenso wenig jedoch die staatliche Rede von normalen Haftbedingungen zutreffe (S. 92). Er prüft die Mobilisierungskraft der RAF-Gefangenen in der erfolgreichen Vermittlung eines Martyriums (S. 93f.). Der Autor skizziert das transnationale Unterstützer/innen-Umfeld der RAF-Gefangenen anhand der Frage, welche Gruppen nach dem „Deutschen Herbst“ und damit nach einem durch polarisierende Radikalisierung einerseits und staatliche Repression andererseits bedingten Auflösungsprozess des Unterstützer/innen-Umfelds noch erreicht werden konnten (S. 92). Dabei zeichnet er auch Sympathie-Konjunkturen für die RAF-Gefangenen in der bundesrepublikanischen Bevölkerung nach (S. 103).

Die folgenden drei Hauptkapitel orientieren sich an den drei großen Hungerstreik-Kampagnen der RAF nach dem „Deutschen Herbst“ und ihren jeweiligen Kontexten. Im zweiten Kapitel wird der RAF-Hungerstreik von 1981 betrachtet, der in seiner Frühphase noch wenig öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr, obwohl sich auch etliche andere Gefangene dem Streik angeschlossen hatten (S. 159). Das Zusammentragen der unterschiedlichen Forderungen gestaltete sich schwierig. Der Hungerstreik von 1981 führte unter Vollzugsärzt/innen zu einer berufsethischen Debatte über Zwangsernährung, wobei Schulz die persönliche Involviertheit der Ärzt/innen ebenso vor Augen führt wie politische Bedenken gegenüber der Zwangsernährung. Der nach Zwangsernährungsmaßnahmen eingetretene Tod des Inhaftierten Sigurd Debus im April 1981 in Hamburg bewirkte Eskalationen außerhalb der Haftanstalten. Zugleich signalisierte das Bundesjustizministerium Bereitschaft zu Verhandlungen mit den Anwält/innen der RAF-Gefangenen, die jedoch scheiterten.

Das dritte Kapitel behandelt den RAF-Hungerstreik 1984/1985 „im Spannungsfeld von Antiimperialistischer Front und ‚Koma-Lösung‘“. Schulz erläutert die im militanten Umfeld geführte Diskussion über das „Front“-Konzept. Zudem belegt er auch hier in differenzierter Weise das emotional-moralische Dilemma von Mediziner/innen bezüglich der Zwangsernährung streikender Inhaftierter. Prägend war für den Hungerstreik von 1984/1985 die im Januar 1985 verabschiedete und zum Teil bereits angewandte Änderung des Strafvollzugsgesetzes, wonach untersagt wurde, Häftlinge gegen ihren Willen künstlich zu ernähren, solange sie bei Bewusstsein waren (S. 298). Die sogenannte „Koma-Lösung“ bewirkte, dass regelmäßig ein Zustand der Bewusstlosigkeit abgewartet wurde, bevor künstliche Ernährungen vorgenommen wurden, die bei Rückkehr des Bewusstseins wieder einzustellen waren.

Das vierte Kapitel „Auf neuen Wegen: Der RAF-Hungerstreik 1989“ legt einen Schwerpunkt auf Dynamiken und Krisen innerhalb der radikalen Linken sowie Versuche des Unterstützer/innen-Umfelds, Kommunikationsmöglichkeiten nach außen zu verbessern (S. 375). Weiterhin werden hier Vorgeschichte, Verlauf und Scheitern der unter anderem von der Grünen-Politikerin Antje Vollmer angestoßenen „Dialoginitiative“ geschildert, mit der versucht wurde, einen Abbruch der Hungerstreiks und ein Ende der Gewaltspirale zu erreichen. Mit dem neuen Konzept der „Kette“, bei dem Streikende zeitweise aussetzen konnten, wurde der Hungerstreik nicht nur bewusst in die Länge gezogen, sondern auch Rücksicht auf den schlechten Gesundheitszustand einiger Inhaftierter genommen (S. 380).

Im fünften Kapitel „Die AD-Hungerstreiks 1987/88 und 1989 in Frankreich und Solidarität aus der Bundesrepublik“ untersucht Schulz schließlich dezidiert die Verhältnisse zwischen Linksterrorismus, Staat und linksliberalen Teilen der Öffentlichkeit in Frankreich und Westdeutschland, wobei er auch die in der Bundesrepublik und in Frankreich jeweils sehr unterschiedlichen Medienreaktionen berücksichtigt. Der Autor versucht dabei, die Beziehungen zwischen Roter Armee Fraktion und Action Directe zu klären, ordnet die Hungerstreiks von RAF und AD in einen europäischen Kontext ein und greift Wechselwirkungen in beide Richtungen auf.

Schulz kann die Bedeutung und Ausgestaltung der Hungerstreiks nicht nur in der Beziehung zum Staat, sondern auch im Verhältnis zur Gesellschaft überzeugend darlegen. Ihm gelingt es, seine Thesen zu Dynamiken innerhalb der RAF zu begründen – sowohl von in der Illegalität lebenden als auch von inhaftierten Mitgliedern – und Strategien und Kapazitäten der RAF sichtbar zu machen (S. 39–44). Beispielhaft ausgeführte Biografien tragen zur Anschaulichkeit bei.

An mehreren Stellen hebt Schulz die Beteiligung weiblicher Akteure hervor oder betont, wenn eine Gruppe mehrheitlich aus Frauen bestand (etwa S. 31, S. 530, S. 543), führt seine Gedanken über deren Bedeutung leider jedoch nicht näher aus und nimmt auch keine körpergeschichtliche Betrachtung vor. Wünschenswert wäre es zudem gewesen, auf die im ersten Kapitel angestellten grundsätzlichen Überlegungen zum Hungerstreik als politischem Kommunikationsmittel im Verlauf der ausführlichen Quellenanalyse stärker zurückzukommen.

Jan-Hendrik Schulz hat eine lesenswerte, differenzierte und schlüssige Studie geliefert, die eine wichtige Ergänzung zur Forschung über die RAF insbesondere für die Zeit nach dem „Deutschen Herbst“ sowie zur Geschichte der Gefangenenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich darstellt. Der Annahme folgend, dass Hungerstreiks in Gefangenschaft an sich keine terroristischen Akte sind, jedoch von terroristischen Aktionen außerhalb der Haftanstalten begleitet werden können (S. 22), trägt Schulz mit seiner Erforschung und Analyse der Hungerstreiks zum besseren Verständnis der Kontinuität des bewaffneten Kampfes der RAF bei. Er rückt Wechselwirkungen zwischen Aktivist/innen, Staat und Öffentlichkeit in den Vordergrund und erläutert ebenso Dynamiken innerhalb des Unterstützer/innen-Umfelds, etwa die Frage, wie Aktivist/innen aus dem antiimperialistischen Gruppen in eine Mittlerrolle gerieten, immer radikalere Anschläge von RAF und AD jedoch Spaltungsprozesse auslösten. Schulz legt anschaulich dar, wie die RAF-Gefangenen sich gegen Ende der 1980er-Jahre pragmatischeren Kommunikationsstrategien zuwandten und ihre Forderung nach Anerkennung als Kriegsgefangene zurückstellten, nachdem die „Koma-Lösung“ und die damit verbundene Verantwortungsverschiebung auf die Gefangenen den Hungerstreiks einen Teil ihrer Schlagkraft genommen hatte. Die verschärften Haftbedingungen für unnachgiebige politische Inhaftierte untergruben die seit Ende der 1970er-Jahre staatlicherseits proklamierte Liberalisierung des Strafvollzugs (S. 128). Der Autor weist auf die Aktualität seines Themas auch jenseits der RAF hin, wenn er angesichts des aktuellen Verfassungsschutzskandals weitere Forschungen über behördliches Handeln, etwa den Einsatz von V-Leuten, im Kontext des Sicherheitsstaats der 1970er- und 1980er-Jahre empfiehlt (S. 563).

Anmerkung:
1 Marcel Streng, „Hungerstreik“. Eine politische Subjektivierungspraxis zwischen „Freitod“ und „Überlebenskunst“ (Westdeutschland, 1970–1990), in: Jens Elberfeld / Marcus Otto (Hrsg.), Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik, Bielefeld 2009, S. 333–365.